Skip to main navigation Skip to main content Skip to page footer

Plurale Ökonomik

Taiga Brahm und Malte Ring

Die Wirtschaftswissenschaft, bestehend aus Volks- und Betriebswirtschaftslehre, bildet die zentrale Bezugswissenschaft der Wirtschaftsdidaktik und spielt damit eine zentrale Rolle für die Auswahl von Unterrichtsinhalten (Prinzipien für Inhaltsauswahl). Die Wirtschaftswissenschaft wird dabei i.d.R. als plurale Disziplin gesehen, wobei in der jüngeren Vergangenheit oftmals kritisch angemerkt wurde, dass der so genannte Mainstream der Wirtschaftswissenschaften die Pluralität nicht ausreichend anerkennt (z. B. Schneidewind et al., 2016). Gleichwohl bestehen innerhalb der Wirtschaftswissenschaft unterschiedliche Ansätze auf methodologischer, paradigmatischer, theoretischer und empirischer Ebene. Sie können als immanenter Bestandteil der Disziplin betrachtet werden. Zu nennen sind beispielsweise verschiedene Ansätze innerhalb der  Ökonomik wie die Ökologische Ökonomik (Costanza, 1992; Daly & Farley, 2011), die Neue Institutionelle Ökonomik (Bromley, 1989; Williamson, 2005) oder die Postwachstumsökonomik (z. B. van den Bergh, 2011). 

Für Lehrpersonen ist die Reflexion der fachwissenschaftlichen Grundlagen der Wirtschaftsdidaktik zentral, da „erst durch die Einnahme verschiedener Blickwinkel auf wirtschaftliche Entwicklungen möglich wird, diese umfassend zu durchdringen und ihre Konsequenzen zu reflektieren“ (Brahm et al., 2020, S. 874). 

Entsprechend werden im Folgenden verschiedene ökonomische Denkrichtungen kurz dargestellt, im zweiten Teil wird die Betriebswirtschaftslehre in ihren verschiedenen Ansätzen rezipiert, um davon ausgehend didaktische Konsequenzen für die Gestaltung von Wirtschaftsunterricht zu formulieren (vgl. auch Naeve-Stoß et al., 2019).

Pluralität in der Ökonomie

In der VWL gilt die Neoklassik mit ihrer Gleichgewichts-Maxime weiterhin als vorherrschendes Denkmodell, das i.d.R. auch in VWL-Lehrbüchern an den Universitäten im Zentrum steht (vgl. für eine umfassende Analyse van Treeck & Urban, 2016). 

Das neoklassische Modell wird insbesondere für seine strikten Annahmen kritisiert: „Die Annahme eines rationalen, nutzenmaximierenden Verhaltens mit vorgegebenen und im zeitlichen Ablauf konstanten Präferenzen einerseits, die Orientierung auf ein Wirtschaftssystem im Gleichgewicht andererseits und schließlich die fehlende Berücksichtigung von Informationsdefiziten sind die Haupteinwände gegenüber traditionellen Mainstreamkonzepten“ (Bögenhold, 2015, S. 17, aufbauend auf Hodgson, 2004). Gleichzeitig ist innerhalb des an der Neoklassik orientierten Mainstreams zunehmend Pluralität beispielsweise durch verhaltens- oder sozialwissenschaftliche Ansätze zu verzeichnen. 

Pluralität in der Betriebswirtschaftslehre

Neben den verschiedenen Denkschulen auf Seiten der Ökonomik/Volkswirtschaftslehre haben sich auch für die Betriebswirtschaftslehre (BWL) als weiterer Bezugswissenschaft für die Ausbildung von Wirtschaftslehrpersonen verschiedene (theoretische und empirische) Zugänge herausgebildet. Dabei ist grundlegend zwischen einer wirtschaftstheoretisch und einer verhaltenswissenschaftlich fundierten BWL zu differenzieren (Wöhe et al., 2016). Diese unterscheiden sich hinsichtlich ihrer methodologischen Ansätze, ihrer Untersuchungsperspektive(n) sowie der Werturteilsfrage, weswegen ihre Abgrenzung für die Ausbildung von Wirtschaftslehrpersonen durchaus von Interesse ist. Im Folgenden werden die verschiedenen Ansätze der BWL seit Einführung der sozialen Marktwirtschaft knapp skizziert und einander gegenübergestellt (Wöhe et al., 2016): 

Produktivitätstheoretischer Ansatz

Der produktivitätstheoretische Ansatz nach Gutenberg baut auf neoklassischen Modellen der Kosten- und Preistheorie auf und modifizierte diese, um die technischen Produktionsbedingungen abzubilden. 

Entscheidungsorientierter Ansatz

Der entscheidungsorientierte Ansatz nach Heinen entstand in den 1960er Jahren und berücksichtigte konkrete Entscheidungen, womit eine Öffnung zu sozialwissenschaftlichen Fragestellungen einherging. In diesem Zusammenhang wurde auch die Prämisse vollständiger Information aufgegeben und Entscheidungen wurden über mehrere Perioden und damit unter Einbezug von Unsicherheit betrachtet. 

Systemtheoretischer Ansatz

Der systemtheoretische Ansatz von Ulrich geht noch einen Schritt weiter und zielt darauf, zukünftige soziale Systeme im Sinne einer kybernetischen Wissenschaft zu gestalten. 

Verhaltensorientierter Ansatz

Beim verhaltensorientierten Ansatz wird im Vergleich zur entscheidungsorientierten Variante das tatsächliche Entscheidungsverhalten in den Mittelpunkt gerückt und damit das Rationalprinzip relativiert.

Kernprinzipien einer pluralen Wirtschaftswissenschaft als didaktische Anknüpfungspunkte

Angesichts der Beobachtung, dass die oben skizzierte Vielfalt wirtschaftswissenschaftlicher Ansätze vor dem Hintergrund eines ‚Mainstreams' in Forschung und Lehre (zu) wenig thematisiert wird, fordern verschiedene Autorinnen und Autoren eine „Transformative Wirtschaftswissenschaft“ (Schneidewind et al., 2016, S. 30). Schneidewind et al. (2016) umreißen dieses Konzept anhand der folgenden fünf Forderungen:

  1. Transparenz der normativen Annahmen und der methodischen Praktiken;
  2. Reflexivität: Betrachtung der eigenen Wissenschaft und ihrer praktischen Folgewirkungen;
  3. Wertebezug : soll betonen, dass wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnis keinen Selbstzweck darstellt, sondern dazu dient, der heutigen wie der zukünftigen Generation ein Leben im Einklang mit der Umwelt und im sozialen Miteinander zu ermöglichen;
  4. Partizipation: Prozesse der Beteiligung und Teilhabe auch an der Gewinnung und Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnis für alle Menschen;
  5. Vielfalt: Theorien- und Methodenpluralität als „Minimalbedingung für gute Forschung und Lehre“ (Schneidewind et al., 2016, S. 32) und damit als Voraussetzung für Diskurse an Universitäten und Hochschulen.

Diese fünf Ansprüche an eine transformative Wirtschaftswissenschaft können als fachliche Anknüpfungspunkte für die didaktische Ausgestaltung von einem Wirtschaftsunterricht dienen, der die Pluralität der Bezugswissenschaft reflektiert.

Zum Weiterlesen

Naeve-Stoß, N., Jenert, T., & Brahm, T. (2019). Fachbezogene Reflexion in der beruflichen Lehrer*innenbildung. bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik - online, 37, 1-20. 

Literatur

Bögenhold, D. (2015). Gesellschaft studieren, um Wirtschaft zu verstehen: Plädoyer für eine interdisziplinäre Perspektive. Springer VS. 

Brahm, T., Ring, M., & Rudeloff, M. (2020). Mögliche Ausgestaltung der reflexiven Wirtschaftsdidaktik für die Lehrer*innenbildung an allgemeinbildenden Schulen. Zeitschrift für Pädagogik, 66(6), 873-893. https://doi.org/10.25656/01:25818 

Bromley, D. W. (1989). Economic interests and institutions. The conceptual foundations of public policy. Blackwell.

Costanza, R. (1992). Ecological economics: The science and management of sustainability. Columbia University Press.

Daly, H. E., & Farley, J. (2011). Ecological Economics. Principles and Applications (2. Aufl.). Island Press.

Naeve-Stoß, N., Jenert, T., & Brahm, T. (2019). Fachbezogene Reflexion in der beruflichen Lehrer*innenbildung. bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik - online, 37, 1-20.

Schneidewind, U., Pfriem, R., Barth, J., Beschorner, T., Binswanger, M., Diefenbacher, H., Eisenack, K., Elsen, S., Goldschmidt, N., Graupe, S., Grözinger, G., Hansjürgens, B., Herzog, L., Hirte, K., Korbun, T., Lehmann-Waffenschmidt, M., Müller-Christ, G., Muraca, B., Ötsch, W., … Zweynert, J. (2016). Transformative Wirtschaftswissenschaft im Kontext nachhaltiger Entwicklung. Ökologisches Wirtschaften, 31(2), 30-34. https://doi.org/10.14512/OEW310230 

van den Bergh, J. C. J. M. (2011). Environment versus growth - A criticism of “degrowth” and a plea for “a-growth”. Ecological Economics, 70(5), 881-890. https://doi.org/10.1016/j.ecolecon.2010.09.035 

van Treeck, T., & Urban, J. (2016). Wirtschaft neu denken: Blinde Flecken in der Lehrbuchökonomie. IRights Media.

Williamson, O. E. (2005). The Economics of Governance. American Economic Review, 95(2), 1-18. https://doi.org/10.1257/000282805774669880 

Wöhe, G., Döring, U., & Brösel, G. (2016). Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (26. Aufl.). Verlag Franz Vahlen.

zuletzt aktualisiert: 01.11.2024

Nach oben                              Nächste Seite

Zitationshinweis

Die Inhalte dieser Homepage sind CC-BY lizenziert (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/). Bei Verwendung der Inhalte empfehlen wir folgende Zitation:

Brahm, T., & Ring, M. (2024). Plurale Ökonomik. In T. Brahm, M. Ring, & K. Schild (Hrsg.). Wirtschaft unterrichten. Offenes Lehrbuch für Wirtschaftsdidaktik. Online verfügbar unter: https://wirtschaft-unterrichten.de/einfuehrung/inhaltliche-konturierungen/plurale-oekonomik (zuletzt abgerufen am [Datum]).