Moralische Urteilsbildung und der Umgang mit Normativität
Victoria Vochatzer und Malte Ring
Wirtschaft als Disziplin ist nicht frei von Normativität. Eine zentrale Ursache für das Wirtschaften ist die Idee der Knappheit: Wenn Güter knapp sind, stellt sich automatisch die Frage, wer sie besitzen darf und wie sie verteilt werden. Ethische und moralische Fragestellungen, insbesondere Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen, waren daher schon immer Teil ökonomischer Überlegungen (historisch bei Aristoteles, Adam Smith, Karl Marx, …) und sind es auch heute in modernen ökonomischen Diskursen (Plurale Ökonomie). So untersucht beispielsweise die Verhaltensökonomie, wie Menschen ökonomische Entscheidungen treffen und betont dabei die Rolle von Heuristiken, kognitiven Verzerrungen oder normativen Werten wie Fairness (Kahneman et al., 1986; Tversky & Kahneman, 1974).Für die ökonomische Bildung wies Kaminski bereits 1977 auf die (Wirtschafts-)Wissenschaft als sozialen Prozess hin und hob in diesem Kontext die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als Voraussetzung hierfür hervor (Kaminski, 1977).
Wirtschaftliche Theorie und wirtschaftliche Praxis sind von Zielkonflikten geprägt und verursachen Situationen, die ethischer Überlegungen bedürfen. Ein typischer Zielkonflikt zeigt sich beispielsweise in der aktuellen Umweltdebatte: So stellt sich die Frage, wie ein auf Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem in einer Welt mit begrenzten Ressourcen und natürlichen Schranken dauerhaft nachhaltig sein kann. Damit beschäftigen sich insbesondere die Umweltökonomie bzw. die Ökologische Ökonomik (z.B. Rogall, 2008). Um vor dem Hintergrund ethischer Überlegungen eigene ökonomische Entscheidungen treffen und die Folgen (sozio-)ökonomischer Entscheidungen mit den eigenen Werten abgleichen zu können, benötigen Jugendliche folglich Urteils- und Bewertungskompetenz. Dabei sind fachliche Prinzipien und Inhalte eng mit einer ethischen Einschätzung verwoben und müssen deshalb gemeinsam in den Blick genommen werden. Ohne ein Verständnis von Märkten kann der Markt als mögliche Lösung für Zielkonflikte nicht in angemessener Differenziertheit diskutiert werden.
Diese Urteils- und Bewertungskompetenz bei Schülerinnen und Schülern zu stärken, ist deshalb ein zentrales Ziel von (sozio-)ökonomischer Bildung (Hedtke, 2005; Kaminski, 2017; Loerwald, 2010) und steht bei reflexiver Wirtschaftsdidaktik im Mittelpunkt (Goldschmidt et al., 2018) (Reflexive Wirtschaftsdidaktik).
Urteilskompetenz bei Schülerinnen und Schülern stärken und Reflexionsanlässe schaffen
Die Aufgabe der Wirtschaftslehrperson ist es, bei den Lernenden Reflexions- und Urteilsbildungsprozesse anzustoßen, ohne sie dabei zu überwältigen. Grundsätzlich orientiert sich die ökonomische Bildung dafür am Beutelsbacher Konsens, d.h. den drei zentralen Prinzipien Überwältigungsverbot, Kontroversität und Bildung eines selbstständigen Urteils (Bundeszentrale für politische Bildung, 2011). Gemeint ist, dass Lehrpersonen Lernende nicht indoktrinieren, sozioökonomische Themen in ihrer Vielfalt dargestellt werden und der Unterricht auf die Entwicklung einer eigenständigen Position zu sozioökonomischen Sachverhalten ausgerichtet ist.
Um für Lernende Reflexionsanlässe zu ökonomischen Fragestellungen zu entwickeln, hilft das Drei-Dimensionen-Modell bzw. der systematische Blick auf Akteure unterschiedlicher Ebenen. So können sich wirtschaftsethische Fragestellungen im Unterricht auf die individualethische Ebene beziehen, wenn sie danach fragen, was ein Individuum tun soll und welche Rechte und Pflichten es hat (beispielsweise die Lernenden in ihrer Rolle als Verbraucherinnen und Verbraucher). Sie beinhalten auch Fragen auf einer unternehmensethischen Ebene, beispielsweise, wenn im Rahmen von Corporate Social Responsibility diskutiert wird, ob und welche Verantwortung Unternehmen in der Gesellschaft übernehmen sollen. Zusätzlich können Fragen und Probleme auf der ordnungsethischen Ebene auftauchen, wenn gefragt wird, ob und wie der Staat in die Wirtschaft eingreifen soll. Im Vordergrund steht auf dieser Ebene die Frage der sozialen Gerechtigkeit sowie der Umgang mit Marktversagen.
Wirtschaftsethische Fragestellungen ergeben sich insbesondere auch aus Konflikten zwischen den verschiedenen Ebenen, die als soziale Dilemmata bezeichnet werden (Homann & Suchanek, 2005). Das bedeutet, es handelt sich um Situationen, in denen „das aggregierte Ergebnis individuell vernünftiger Verhaltensstrategien in einen kollektiv unerwünschten Zustand einmündet“ (Loerwald, 2020, S. 246). Beispielsweise kann es für einzelne Personen in einer wirtschaftlichen Rezession sinnvoll sein, Geld erstmal nicht auszugeben, sondern zu sparen. Folgen allerdings alle Personen dieser Logik, kann dies zu einer geringeren aggregierten Nachfrage und damit zu einer Verstärkung der Krise führen. Eine zentrale Schwierigkeit ist es, dass das individuelle Verhalten oder dessen Ergebnis auf der Makroebene für das Individuum nicht immer sichtbar ist (Homann & Suchanek, 2005). Hinzu kommt, dass die (Wirkungs-)Kette von Mikro- zu Makroebene komplex und in gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet ist. Auch halten verschiedene wirtschaftswissenschaftliche Strömungen unterschiedliche Mechanismen für grundlegend und schlagen daher teilweise konträre Lösungsansätze vor. Beispielsweise werden in der neoklassischen Ökonomie die Präferenzen von Personen größtenteils als stabil und rational angesehen und für Analysen als gegeben angenommen. Entsprechend liegt der Fokus wirtschaftlicher und wirtschaftsethischer Überlegungen in der Analyse der Handlungsergebnisse, wenn sich die Handlungsbedingungen und Anreizstrukturen verändern (Krol, 2001).
Übergreifende Aufgabe der ökonomischen Bildung muss es daher sein, den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, die verschiedenen wirtschaftsethischen Ebenen zu unterscheiden und die Perspektiven verschiedener Akteure nachzuvollziehen. Soziale Dilemmata müssen verständlich gemacht werden und die unterschiedlichen Lösungsansätze und verglichen, untersucht und vor dem Hintergrund eigener Wertvorstellungen reflektiert werden (Loerwald, 2020).
zum Weiterlesen
Unterrichtsbausteine: Retzmann, T., & Grammes, T. (2014). Wirtschafts- und Unternehmensethik. 15 Unterrichtsbausteine für die ökonomische und gesellschaftspolitische Bildung. Wochenschau Verlag.
Multiperspektivität: Loerwald, D. (2017). Mehrperspektivität und ökonomische Bildung. In T. Engartner, & B. Krisanthan (Hrsg.), Wie viel ökonomische Bildung braucht politische Bildung? (S. 61-69). Wochenschau Verlag.
Unterrichtseinheit zur Verhaltensökonomie der Hertz Stiftung: Wir sind keine rationalen Nutzenmaximierer
Literatur
Bundeszentrale für politische Bildung. (2011, April 7). Beutelsbacher Konsens. bpb.de. www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens
Goldschmidt, N., Keipke, Y., Lenger, A., & Macha, K. (2018). Reflexive Wirtschaftsdidaktik: Ökonomische Handlungskompetenz, wirtschaftliches Sinn-Verstehen und moralische Urteile. GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, 67(1), 143-151. doi.org/10.3224/gwp.v67i1.09
Hedtke, R. (2005). Gemeinsam und unterschieden. Zum Problem der Integration von politischer und ökonomischer Bildung. In D. Kahsnitz (Hrsg.), Integration von politischer und ökonomischer Bildung? Verlag für Sozialwissenschaften.
Homann, K., & Suchanek, A. (2005). Ökonomik: Eine Einführung. Mohr Siebeck.
Kahneman, D., Knetsch, J. L., & Thaler, R. (1986). Fairness as a Constraint on Profit Seeking: Entitlements in the Market. The American Economic Review, 76(4), 728-741.
Kaminski, H. (1977). Grundlegende Elemente einer Didaktik der Wirtschaftserziehung wissenschaftstheoretische Voraussetzungen, Probleme der Curriculumentwicklung, Strategien zur unterrichtlichen Realisation (1. Aufl.). Klinkhardt.
Kaminski, H. (2017). Fachdidaktik der ökonomischen Bildung. Ferdinand Schöningh.
Krol, G.-J. (2001). „Ökonomische Bildung“ ohne „Ökonomik“? Zur Bildungsrelevanz des ökonomischen Denkansatzes. Onlinejournal für Sozialwissenschaften und ihre Didaktik, 1/2001, 1-10.
Loerwald, D. (2010). Wirtschaftsethik im Ökonomieunterricht. Zum Spannungsverhältnis von ethischer Ökonomie und ökonomischer Ethik aus wirtschaftsdidaktischer Sicht. In A. Fischer (Hrsg.), Schule - Der Zukunft voraus. Was wäre, wenn....?; Lese- und Lehrbuch für zukunftsorientierte Ansätze in der beruflichen Bildung. (S. 75-92). Schneider-Verlag.
Loerwald, D. (2020). Ökonomische Bildung in Deutschland. List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, 45(3), 239-253. doi.org/10.1007/s41025-020-00187-z
Rogall, H. (2008). Ökologische Ökonomie. Eine Einführung (2. Aufl.). VS Verlag für Sozialwissenschaften. doi.org/10.1007/978-3-531-91001-7
Tversky, A., & Kahneman, D. (1974). Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. Science, 185(4157), 1124-1131. doi.org/10.1126/science.185.4157.1124
zuletzt aktualisiert: 01.11.2024
Zitationshinweis
Die Inhalte dieser Homepage sind CC-BY lizenziert (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/). Bei Verwendung der Inhalte empfehlen wir folgende Zitation:
Vochatzer, V., & Ring, M. (2024). Moralische Urteilsbildung. In T. Brahm, M. Ring, & K. Schild (Hrsg.), Wirtschaft unterrichten. Offenes Lehrbuch für Wirtschaftsdidaktik. Online verfügbar unter: https://wirtschaft-unterrichten.de/themenfelder-oekonomische-bildung/moralische-urteilsbildung (zuletzt abgerufen am [Datum]).