Potenzialanalyse
Tina Fletemeyer und Vera Kirchner
Potenzialanalysen stellen ein zentrales Instrument zur Kompetenzfeststellung im Rahmen der Beruflichen Orientierung (Berufsorientierung) dar. Sie richten sich in der Regel an Schülerinnen und Schüler ab der 7. Jahrgangsstufe an allgemeinbildenden Schulen (BMBF, 2024). In vielen landesspezifischen institutionellen Vorgaben zur Beruflichen Orientierung sind berufseignungsdiagnostische Verfahren wie die Potenzialanalyse fest verankert, wenngleich hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und Durchführung keine einheitlichen Vorgaben bestehen (Driesel-Lange, 2020).
Zielsetzung
Potenzialanalysen zielen darauf ab, die Schülerinnen und Schüler bei der Entwicklung ihrer Berufswahlkompetenz zu unterstützen. Sie sollen dazu befähigt werden, ihren weiteren berufsorientierenden Prozess eigenverantwortlich und zielgerecht zu gestalten (Driesel-Lange & Kracke, 2017). Zunächst steht hierbei jedoch nicht die konkrete Berufswahl oder die Eignung für bestimmte Berufe oder Tätigkeitsfelder im Vordergrund (BMBF, 2024; Lippegaus-Grünau & Voigt, 2012). Vielmehr sollen die Schülerinnen und Schüler mithilfe einer Potenzialanalyse dazu angeregt werden, sich erstmals bewusst mit ihren eigenen Fähigkeiten und Interessen auseinanderzusetzen (BMBF, 2024).
Im Rahmen der Potenzialanalyse erhalten Jugendliche die Gelegenheit, „fachübergreifende Kompetenzen und erste berufswahlbezogene Interessen zu erkunden und zu reflektieren“ (BMBF, 2024, S. 2). Sie bietet ihnen die Möglichkeit, „sich selbst zu entdecken, Kompetenzen zu erleben [und] eigene Potenziale wahrzunehmen“ (Lippegaus-Grünau & Stolz 2010, S. 10). Der dezidiert stärkenorientierte Ansatz von Potenzialanalysen soll die Schülerinnen und Schüler motivieren, sich mit Berufswahlfragen und ihren eigenen Potenzialen zu beschäftigen und Verantwortung für die eigene berufliche Zukunft zu übernehmen (BMBF, 2024). Aus den Ergebnissen der Potenzialanalyse lassen sich zudem individuelle Entwicklungsziele für den weiteren beruflichen Orientierungsprozess der Jugendlichen ableiten. Damit liefern Potenzialanalysen wichtige „Anhaltspunkte für die [weitere] schulische und außerschulische individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler“ (BMBF, 2024, S. 2).
Kompetenzen
Als Potenziale werden „verborgene“ oder noch nicht vollständig entwickelte Fähigkeiten bezeichnet (Lippegaus-Grünau & Stolz, 2010). Im Fokus der Durchführung von Potenzialanalysen steht daher nicht die Überprüfung bereits messbarer Kompetenzen, sondern eher die Frage, welche Talente und Fähigkeiten noch „unerkannt“ in den Jugendlichen stecken (Lippegaus-Grünau & Stolz, 2010). Dabei kann es durchaus vorkommen, dass die Schülerinnen und Schüler in Potenzialanalysen Fähigkeiten zeigen, die im schulischen Alltag bisher unentdeckt geblieben sind (Lippegaus-Grünau & Stolz, 2010). Die Schülerinnen und Schüler sollen fachübergreifende Kompetenzen erkunden, die für die kompetente Bewältigung zukünftiger (beruflicher, aber auch alltäglicher) Anforderungssituationen zentral sind.
Dazu gehören in vielen Potenzialanalysen:
Methodische Kompetenzen | „Fähigkeiten, bestimmte Tätigkeiten und Aufgaben angemessen und ‚erfolgreich‘ zu gestalten und zu lösen“ Beispiel: Organisationsfähigkeit, Kreativität, Problemlösefähigkeit |
Personale Kompetenzen | „Fähigkeiten, sich selbst einzuschätzen, weiterzuentwickeln und die eigene Person in die Gestaltung von Aufgaben einzubringen“ Beispiel: Zuverlässigkeit, Flexibilität, Selbstständigkeit |
Soziale Kompetenzen | „Fähigkeit, soziale Beziehungen kooperativ und konstruktiv zu gestalten“ Beispiel: Team-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit |
(Eigene Darstellung basierend auf: BMBF, 2024, S. 3, basierend auf Enggruber & Bleck, 2005, S. 5)
Durchführung und Aufgabentypen
Für die Umsetzung von Potenzialanalysen gibt es keine expliziten Verfahrensvorgaben (Lippegaus-Grünau & Stolz, 2010). Das gewählte Verfahren sollte sich jedoch an die Qualitätsstandards vom BMBF (BMBF, 2024) orientieren. Zentrale Bestandteile sind handlungsorientierte Aufgaben sowie Verfahren zur Selbst- und Fremdeinschätzung (Lippegaus-Grünau & Voigt, 2012). Sie können durch biografieorientierte Aufgabenformate ergänzt werden (Lippegaus-Grünau & Voigt, 2012).
Im Rahmen von handlungsorientierten Aufgaben werden die Jugendlichen in Einzel- oder Gruppenarbeit mit praxisorientierten Anforderungssituationen konfrontiert, bei deren Bewältigung sie systematisch hinsichtlich vorab festgelegter Kompetenzmerkmale beobachtet werden. Die Beobachtung erfolgt kriteriengeleitet durch geschultes Personal, um Beobachtungsfehler möglichst zu minimieren (BMBF, 2024; Driesel-Lange, 2020). Aufgaben umfassen an Assessment Center angelehnte Verfahren und Arbeitsproben, aber auch Methoden aus der Erlebnispädagogik oder dem Sozialtraining sind denkbar (BMBF, 2024, S. 6). Abwechslungsreiche Aufgabenstellungen, verschiedene Sozialformen und Aufgabentypen sowie anpassbare Schwierigkeitsstufen sorgen dafür, dass alle Jugendlichen die Möglichkeit haben, ihre individuellen Stärken und Fähigkeiten zu zeigen (BMBF, 2024, S. 6). Ein Beispiel für die unterrichtliche Umsetzung ist das Verfahren Profil AC.
Biografieorientierte Aufgaben sollen den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, ihre persönlichen Erfahrungen aus ihrer Lebensgeschichte zu reflektieren und daraus Erkenntnisse für ihren weiteren beruflichen Orientierungsprozess zu gewinnen (BMBF, 2024). Im Mittelpunkt steht dabei die Auseinandersetzung mit „erfolgreichen Handlungsstrategien und individuellen Interessen sowie persönlichen Werten und Zielen“, aus denen die Jugendlichen „Schlussfolgerungen über fachübergreifende Kompetenzen und berufliche Interessen“ ableiten (BMBF, 2024, S. 6). Diese Verfahrensarten lassen sich in besonderen Beratungssettings, wie bspw. im Rahmen der Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit finden.
Neben den handlungs- und biografieorientierten Aufgaben werden oftmals auch Interessentests eingesetzt, um die beruflichen Interessen und Neigungen der Jugendlichen zu erfassen (Driesel-Lange, 2020, S. 390).
Ergebnisse und weitere unterrichtliche Einbindung
Die Ergebnisse der Potenzialanalyse werden schriftlich dokumentiert und sollten schließlich in Einzelgesprächen mit den Schülerinnen und Schüler reflektiert werden. Grundlage des Rückmeldegesprächs bildet das Kompetenzprofil, „das neben Zahlenwerten auch konkrete Beschreibungen [der beobachteten] Stärken enthält“ (Lippegaus-Grünau & Stolz, 2010, S. 23). Außerdem bietet das Reflexionsgespräch die Möglichkeit, die Selbsteinschätzung des Jugendlichen mit der Fremdeinschätzung des Beobachters/der Beobachterin abzugleichen und mögliche Abweichungen zu thematisieren (Rudeloff et al., 2021). Für eine hohe Wirksamkeit von Potenzialanalysen ist vor allem die Einbindung in den weiteren berufsorientierenden Prozess zentral. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern werden weiterführende Entwicklungsaufgaben formuliert, die konkrete Maßnahmen zur weiteren Kompetenzentwicklung des Jugendlichen umfassen (Lippegaus-Grünau & Stolz, 2010). Für eine nachhaltige Weiterarbeit mit den Ergebnissen der Potenzialanalyse ist zudem eine schulinterne Transparenz notwendig, damit auch die Potenziale weiterer Fächer bzw. weiterer Projekte einfließen und berücksichtigt werden können. Die Ergebnisse der Potenzialanalyse sollten auch im begleitenden Dokumentationsinstrument (Dokumentationsinstrument Portfolio) abgelegt werden.
zum Weiterlesen
Kalisch, C., Kley, S. & Prill, T. (2019). Selbsterkundung und Förderung individueller Entscheidungen in der Beruflichen Orientierung: Neukonzeption des Potenzialanalyse-Ansatzes. In K. Driesel-Lange, U. Weyland & B. Ziegler (Hrsg.), „Berufsorientierung in Bewegung“. Themen, Erkenntnisse und Perspektiven. ZBW-Beiheft 30. (S. 155-168). Franz Steiner Verlag.
Krzatala, K. & Retzmann, T. (2014). Kompetenzdiagnostik in der Berufsorientierung. Eine Bestandsaufnahme der Potenzialanalyse als Diagnose- und Förderinstrument in der Sekundarstufe I. In T. Retzmann (Hrsg.), Ökonomische Allgemeinbildung in der Sekundarstufe I und Primarstufe: Konzepte, Analysen, Studien und empirische Befunde. (S. 128-143). Wochenschau Verlag.
Schröder, R. (2014). Einbindung der Berufsdiagnostik in die schulischen Berufsorientierungskonzepte: eine unterschätze Herausforderung. In D. Müller, H. J. Schlösser, M. Schuhen & A. Liening (Hrsg.), Bildung zur Sozialen Marktwirtschaft. (S. 295-308). Lucius & Lucius.
Literatur
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.) (2024). Qualitätsstandards des BMBF zur Durchführung von Potenzialanalysen im Rahmen des Berufsorientierungsprogramms (BOP). Stand Dezember 2022 i.d.F. vom April 2024. https://www.berufsorientierungsprogramm.de/bop/shareddocs/downloads/qualitaetsstandards/qualitaetsstandards-pa-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Zugriff am 14.05.2025).
Driesel-Lange, K. (2020). Kompetenzfeststellungsverfahren als Instrument der Berufsorientierung. In T. Brüggemann & S. Rahn (Hrsg.), Berufsorientierung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. (S. 386-397). Waxmann.
Driesel-Lange, K. & Kracke, B. (2017). Potentialanalysen als Instrument der Förderung in der Berufs- und Studienorientierung. Besondere Herausforderungen der Begleitung von Jugendlichen mit Hochschulzugangsberechtigung. In T. Brüggemann, K. Driesel-Lange & C. Weyer (Hrsg.), Instrumente zur Berufsorientierung. Pädagogische Praxis im wissenschaftlichen Diskurs. (S. 99-124). Waxmann.
Enggruber, R. & Bleck, C. (2005). Modelle der Kompetenzfeststellung im beschäftigungs- und bildungstheoretischen Diskurs – unter besonderer Berücksichtigung von Gender Mainstreaming. https://opus4.kobv.de/opus4-hs-duesseldorf/frontdoor/index/index/year/2007/docId/233 (Zugriff am 19.05.2025).
Lippegaus-Grünau, P. & Stolz, I. (2010). Handreichung zur Durchführung von Potenzialanalysen im Berufsorientierungsprogramm (BOP) des BMBF. Offenbach a. M.: Institut für berufliche Bildung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (Hrsg.). https://lit.bibb.de/vufind/Record/DS-146346 (Zugriff am 14.05.2025).
Lippegaus-Grünau, P. & Voigt, B. (2012). Potenziale erkennen und fördern. Qualität entwickeln. Band 1: Potenzialanalysen in Theorie und Praxis. Offenbach a. M.: Institut für berufliche Bildung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (Hrsg.). https://www.berufsorientierungsprogramm.de/bop/shareddocs/downloads/potenziale-erkennen-und-foerdern-qualitaet-entwickeln-band-1.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (Zugriff am 14.05.2025).
Rudeloff, M., Brahm, T. & Ring, M. (2021). Potenzialanalysen als Instrument der beruflichen Orientierung – Herausforderungen und Weiterentwicklungspotenziale. In U. Weyland, B. Ziegler, K. Driesel-Lange & A. Kruse (Hrsg.), Entwicklungen und Perspektiven in der Berufsorientierung. Stand und Herausforderungen. (S. 79-94). Bundesinstitut für Berufsbildung.
zuletzt aktualisiert: 07.10.2025